Montag, 5. Oktober 2015

Wirkung therapeutischer Mobilisation bei M. Bechterew

von Bernhard Reichert

Rheumatoide Erkrankungen an Extremitätengelenken und Wirbelsäule stellen häufig eine relative oder absolute Kon­traindikation für manualtherapeutische Interventionen dar. Intensive Kapseldehnungen verbieten sich bei akut entzündlichen und destruierenden Formen. Beispielsweise hat die Rheumatische Arthritis bei längerer Krankheitsdauer eine ca. 90%ige Beteiligung der HWS mit Synovitiden, Destruktion von Knorpel und Erosion von Knochen (Braun et al., 2009). Etwa 11% – 58% davon haben neurologische Symptome (Coughlin et al., 2012). Ganz anders verhält es sich mit der ankylosierenden Spondylarthritis (M. Bechterew). Ihre Symptomatik ähnelt anderen Formen chronischer Rückenschmerzen und ist in der physiotherapeutischen Praxis primär heraus zu differenzieren. Die Wahrscheinlichkeit einer ankylosierenden Spondylarthritis bei chronischen Rückenschmerzen beträgt immerhin etwa 5% (Rudwaleit et al., 2005) und die Dauer vom Auftreten der ersten Symptome bis zur Diagnose sind bei Männern 8,4 und bei Frauen 9,8 Jahre (Rudwaleit et al., 2005). Dagfinrud et al. (2008) fassen in ihrer Literaturübersicht die physiotherapeutischen Ziele bei der ankylosierenden Spondylarthritis zusammen: Schmerzlinderung; Erhalt/Verbesserung; Haltung, Wirbelsäulen-Beweglichkeit und Muskelkraft; Thoraxmobilität und Vitalkapazität; Allgemeine Ausdauer.

Der Beitrag der Manuellen Therapie (MT) wurde bislang lediglich in einer experimentellen Studie von Widberg et al. (2009) beschrieben: In einem randomisiert kontrollierten Studiendesign versuchten sie, die Wirkung der therapeutischen Mobilisationen gegenüber keiner Behandlung hinsichtlich der Thoraxmobilität und Vitalkapazität sowie Wirbelsäulenbeweglichkeit und funktionellen Assessments zu erforschen. 32 Männer zwischen 23 und 60 Jahren nahmen an der Studie teil und wurden zufällig in die Behandlungsgruppe mit den Mobilisationen beziehungsweise in die Gruppe ohne Behandlung zugeteilt. Die Probanden hatten eine durchschnittliche Krankheitsdauer von 3 Jahren (0–20), waren in keiner entzündlichen Phase, hatten keine kostovertebralen Ankylosierungen und keine weiteren Nebenerkrankungen. 

Im Untersuchungszeitraum von 8 Wochen wurden die Probanden der Kontrollgruppe angewiesen, ihre "üblichen Übungen" fortzuführen. Die Probanden der Behandlungsgruppe erhielten zweimal wöchentlich eine einstündige Behandlung mit: Massage; Muskeldehnungen; aktiven und passiven allgemeinen und lokalen Mobilisationen der Wirbelsäule und des Thoraxes in unterschiedlichen Richtungen und in verschiedenen Ausgangsstellungen. Die patientengeleitete Intensität war "painless as possible" und balancierte zwischen Schmerzzunahme und Mobilitätsverbesserung. Sie erhielten Anleitungen zu einem einstündigen mobilisierenden Heimübungsprogramm, das die Probanden zusätzlich zweimal wöchentlich durchführten. 

Die Thoraxmobilität verbesserte sich signifikant vor allem in Höhe des Proc. xiphoideus um 0,8cm (±1,0), was sich allerdings auf die Vitalkapazität kaum auswirkte: plus 0,2l (±1,2). Das Gesamtausmaß der thorakalen Beweglichkeit in Flexion und Extension verbesserte sich ebenfalls signifikant um 7,5° (±4,8), allerdings weniger in Extension. Ähnliche Zunahme an Mobilität und auch in der Gewichtung pro Flexion war lumbal zu erkennen. Allerdings hatte dieser Mobilitätsgewinn kaum Auswirkungen auf die Haltung der Probanden. Bei den funktionellen Assessments (zum Beispiel Bath Ankylosing Spondylitis Functional Index) gab es eine globale und meist signifikante Verbesserung. Statistisch signifikante Unterschiede zur Kontrollgruppe gab es bei den Messungen von Thoraxmobilität, sagittale Beweglichkeit von BWS und LWS und einem funktionellen Assessment (BASMI), in dem 5 Beweglichkeitsmaße erfasst werden (Deutsche Vereinigung Morbus Bechterew e.V). Diese Verbesserungen konnten in einer weiteren Messung nach 6 Monaten ebenfalls als signifikanter Unterschied festgehalten werden. 

Diskussion: Die Arbeit von Widmerg et al. (2009) zeigt in einigen Eigenschaftsmessungen zumindest ermutigende Tendenzen in Thorax- und Wirbelsäulenmobilität. Die Manuelle Therapie ist in dieser Studie Teil eines therapeutischen Pakets, daher ist der Beitrag der MT an den Ergebnissen nicht wirklich zu erkennen. Schwächen dieser Studie sind die Heterogenität der Probanden in Alter und Krankheitsdauer und die geringe Probandenzahl. Positiv ist die umfangreiche Messmethodik. 

Schlussfolgerung: Passive manualtherapeutische Behandlung kann einen Beitrag zur Verbesserung der Wirbelsäulen- und Thoraxmobilität leisten, wobei unbedingt weitere Studien notwendig sind, die MT als therapeutische Besonderheit betonen und die mehr und homogenere Probanden aufnehmen. Entscheidend für den Einsatz passiver Mobilisation ist die Berücksichtigung der krankheitsbedingten Kontraindikationen. 

Empfehlung für die Praxis: Weichteiltechniken oder Funktionsmassagen verbinden die Muskelverformung mit Bewegungen des Wirbelsäulenabschnittes. Im abgebildeten Beispiel thorakaler Funktionsmassage, wie sie beispielsweise von der International Academy of Orthopedic Medicine (IAOM.de) unterrichtet werden, wird der Patient in Seitenlage gelagert. Während der Daumen der kaudalen Hand von lateral den Rückenstrecker anhakt und nach medial schiebt, zieht die kraniale Hand den Thorax nach vorne (Abbildung oben; Reichert, 2015). Manualtherapeutische Mobilisation an der Wirbelsäule unterscheidet sich in allgemeine (den ganzen Wirbelsäulenabschnitt betreffend) und lokale, segmentale Techniken. Allgemeine Techniken werden in einem dreidimensionalen Bewegungsmuster ausgeführt, das typisch für den betreffenden Wirbelsäulenabschnitt ist und durch Seitneigungs- oder Rotationsbetonung die jeweiligen Bewegungsrichtungen vergrößern kann. 

Der Autor
Bernhard Reichert ist Masseur und Physiotherapeut, BSc und MSc PT., Instruktor für Manuelle Therapie bei der IAOM, Lehrkraft der Dresden International University und Fachbuchautor

Literaturverzeichnis
  1. Braun J, Siper J. Treatment of rheumatoid arthritis and ankylosing spondylitis.Clin Exp Rheumatol. 2009; 27 (Suppl. 55): S146-7.
  2. Coughlin TA, Klezl Z. Focus On Cervical Myelopathy. British Editorial Society of Bone and Joint Surgery. 2012. http://www.boneandjoint.org.uk/sites/default/files/Cervical%20Myelopathy.pdf; 23.06.2015
  3. Rudwaleit M, Siper J. Diagnose und Fru?hdiagnose der Spondylitis ankylosans (M. Bechterew). Morbus-Bechterew-Journal 2005; 100:4-9
  4. Dagfinrud H, Kvien TK, Hagen KB. Physiotherapy interventions for ankylosing spondylitis. Cochrane Database Syst Rev. 2008 Jan 23;(1):CD002822.
  5. Deutsche Vereinigung Morbus Bechterew e.V., Metzgergasse 16, 97421 Schweinfurt. http://www.bechterew.de/fileadmin/DVMB_BV/pdf-dateien/mb/basmi-10.pdf
  6. Reichert B, Fasolino M, Massage-Therapie. Stuttgart: Thieme.2015

Quelle: VPT Magazin, Nr. 02/2015 Ausgabe SEPT