Montag, 24. August 2015

Fit bis in die Fingerspitzen - Die VPT Landesgruppe BW informiert

Als „Aschenputtel-Organ“ bezeichnet Kursleiter Stefan Dennenmoser die Faszien. Denn das wahre Potenzial des multifunktionalen Bindegewebsnetzwerks erschließen Wissenschaftler gerade erst. Wie sich erste Forschungsergebnisse therapeutisch nutzen lassen, vermittelt der Fascial Fitness Basiskurs in Theorie und Praxis.
Bevor die Kursteilnehmer selbst testen, wie Faszien-Rollen und fasziales Dehnen wirken, steht Anatomie auf dem Plan: Faszien bilden ein Bindegewebsnetz, das den gesamten Körper durchzieht bis in die Fingerspitzen und das unter dem Einfluss von Zug und Spannung alles zusammenhält. Dazu zählen Sehnen, Bänder, Gelenk- und Organkapseln sowie das die Muskeln umgebende Bindegewebe. Die hellen Gewebsschichten bestehen aus Bündeln von Kollagen- und Elastinfasern, Zellen und extrazellulärem Wasser. Letztere Grundsubstanz ist für die Formbarkeit und Geschmeidigkeit des Gewebes entscheidend. Wie ein Schmiermittel lässt sie Muskeln, die von Faszien umhüllt sind, bei jeder Bewegung aneinander vorbeigleiten. Das Problem: Die Wasserbindungsfähigkeit des Gewebes nimmt mit dem Alter ab. Bindungsstellen werden zunehmend durch freie Radikale besetzt. Dagegen lässt sich mit Schaumrollen trainieren.

„Fascial Release“ nennt Stefan Dennenmoser das Training mit der Faszien-Rolle, das den Wasseraustausch im Gewebe fördern soll. Zum Einstieg versuchen es die Kursteilnehmer mit einem Tennisball unter der Fußsohle: Ganz langsam lassen sie ihn mit hohem Druck entlang der Plantarfaszie von der Ferse bis zu den Zehenspitzen nach vorn rollen. Ziel: Der Druck presst altes extrazelluläres Wasser quasi aus dem Gewebe aus, freie Radikale werden abtransportiert, frisches Wasser strömt nach. Das soll die Gleitfähigkeit zwischen den Faszienschichten erhöhen, das Gewebe geschmeidiger und beweglicher machen und sogar Schmerzen „schmelzen“. Gelingt das? Wie stark muss der Druck sein? Wie lässt sich mit der Rolle der Rest des Körpers trainieren? Und: Wie fühlen sich die Rollen mit unterschiedlichen Härtegraden an? Das kann im praktischen Teil jeder selbst ausprobieren.

Zur Theorie gehören Bilder und Videos: Dennenmoser zeigt Aufnahmen mit der Mikrokamera, die beeindruckende Einblicke ins Innere des Fasziengewebes liefern. Sie belegen, was Therapeuten früher nur fühlen konnten – Verklebungen und Verdickungen des Gewebes. Heute weiß man, dass Faszien kein totes Verpackungsmaterial für Muskeln und Organe sind, sondern selbst ein lebendiges Sinnesorgan bilden. Sie sind in der Lage, sich nutzungsabhängig zu verändern und sie wirken bei jeder Bewegung mit, haben signifikanten Einfluss auf die Übertragung der Muskelkraft, auf die Haltung, das Schmerzempfinden und die Körperwahrnehmung. Sie können aber auch erkranken.
Faszinierender Einblick in tiefe Gewebeschichten
Bei Jugendlichen weisen Faszien noch eine scherengitterartige Kollagenfaserstruktur auf. Diese macht sie elastisch wie eine Damenstrumpfhose. Durch regelmäßige dynamische Dehnbelastungen lässt sich die elastische Struktur erhalten. Bleiben mehrdimensionale Spannungen aufgrund fehlender Alltagsreize aus, verändert sich die Kollagenstruktur: Das Fasernetzwerk verfilzt und verklebt zusehends. Damit verliert es seine Elastizität. Zum Glück lässt sich auch dagegen trainieren.

„Fascial Stretch“ heißt die zweite Säule im Fascial-Training. Auf der Gymnastikmatte zeigt Dennenmoser, wie sich durch bewegte und variantenreiche Räkel-Dehnungen lange Ketten aktivieren lassen, die einen höheren Effekt auf die Faszien haben als klassisches Stretching einzelner Muskeln. Sie tragen dem heutigen Verständnis Rechnung, nach dem der Körper nicht als starres Gerüst zu betrachten ist, sondern als dynamisches Modell, in dem Faszien als Spannungselemente zwischen Knochen und Gelenken für Stabilität und Gelenkigkeit sorgen. Dennenmoser erklärt, wie die Kursteilnehmer ihre therapeutischen Übungen mit dem gelernten Hintergrundwissen faszial optimieren können.

Am zweiten Kurstag steht „elastisches Federn und Wippen“ an. Die dritte Säule des Trainings wirkt noch effizienter auf die Faszien und gibt einen weiteren Reiz zur Anpassung der Kollagenstruktur. Wippen, Federn und Hüpfen macht Faszien fester und zugkräftiger. Im praktischen Teil üben die Therapeuten den Katapult-Effekt: Dadurch können vorgespannte Faszien Energie speichern und damit eine entgegengesetzte Ausholbewegung verstärken. Nur so sind sportliche Höchstleistungen möglich, die sich durch Muskelkraft allein nicht erklären ließen.

Die vierte Säule des Faszientrainings verbessert die Körperwahrnehmung, denn auch bei der Propriozeption spielen Faszien eine entscheidende Rolle. Die vermittelten Übungen sollen gegen Schmerz wirken und zur gezielten Koordinationsverbesserung beitragen. Therapeutisch lässt sich dadurch meist ein Loslassen unbewusster Spannungen erzielen, erklärt Dennenmoser.
Unser Dozent
Stefan Dennenmoser ist Diplom-Sportwissenschaftler, zertifizierter Fascial-Fitness-Mastertrainer, Heilpraktiker und Sporttherapeut mit eigenen Praxen in Ravensburg und Ulm. Er verfügt über Ausbildungen zum Rolf-Movement-Trainer sowie Gyrotonic- und Gyrokinesis-Trainer. Neben seiner Dozententätigkeit schreibt Dennenmoser gerade an seiner Doktorarbeit im Rahmen des von Dr. Robert Schleip geleiteten Faszienforschungsprojekts an der Universität Ulm.
www.stefan-dennenmoser.de
Info
Warum Faszientraining?
Die Bewegungswissenschaften richteten ihr Augenmerk lange auf ein Training von Muskulatur, Kreislauf und Koordination. Neue Erkenntnisse über Faszien und ihre Bedeutung für die Kraftübertragung sowie als propriozeptives Sinnesorgan und federndes Spannungsnetzwerk führten zu einem Umdenken: Faszien-Fitness zielt auf das kollagene Bindegewebs-Netzwerk als Ganzes ab, um dessen Elastizität zu erhalten, Adhäsionen und Verklebungen vorzubeugen. Der Kurs erklärt wissenschaftliche Hintergründe und zeigt, wie Übungen aus der Physiotherapie faszial gestaltet und präventiv oder therapeutisch angewandt werden können.
Kurs-Termine
Fascial Fitness Basiskurs
Die Weiterbildung an der VPT Akademie Fellbach umfasst 16 UE und richtet sich an Physiotherapeuten, Masseure und medizinische Bademeister, Ergotherapeuten und Sportwissenschaftler
Nächster Termin: 10.–11.10.2015
Fortbildungspunkte: 16
Gebühr VPT-Mitglieder: 290€
Gebühr Nichtmitglieder: 320€
Anmeldung und Infos: www.vpt-bw.de
Weitere Faszien-Kurse mit Stefan Dennenmoser, Dr. Robert Schleip und anderen Fachreferenten finden Sie im VPT Magazin ab Seite 19.
SURF-TIPP
Einen Fachbeitrag über die morphologischen und funktionellen Aspekte von Faszien finden Sie hier.

Quelle: VPT Magazin, Nr. 01 Ausgabe JUL/AUG 

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